Weißer Schnee
Ihre Übersetzungsarbeit gestaltete sich an diesem Vormittag zähflüssig. Ein flüchtiger Blick vom PC nach draußen lockte sie zum Fenster. Herrlicher Pulverschnee, wie sie ihn noch nie hier erlebt hatte, verwandelte die Dorfsilhouette in eine vorweihnachtliche Zuckerlandschaft. Ihre
Gedanken nahmen die Ablenkung gern auf und verfingen sich im Schnee.
Ein halbes Jahr erst wohnten sie in dem Dorf mit den blank gefegten Bürgersteigen, unweit der großen Mainmetropole Frankfurt.
Eine richtige Flucht? Nein, das wollte sie sich jedenfalls nicht eingestehen.
Nachmittägliches Spielen im Grünen, die wachenden Blicke aller Nachbarn für ihre Tochter, besser als teilnahmslose Hausbewohner, die sich nicht
einmal vom Ansehen kannten.
Ein Lächeln begleitete den Tanz der Schneeflocken. Lokoka hatte sich stets wie ein übermütiges Kind verhalten, wenn es Schneefall in London gab, hatte seine Arme wie zum Segnen ausgebreitet und das Gesicht lange und andächtig der sanften Berührung der Kristalle entgegengestreckt, als könne er damit seine Seele waschen. Seine übermütigen Luftsprünge waren grazil wie die einer Gazelle, sprühend vor Lebensfreude.
Wie bewunderte nicht allein sie ihn für diese Möglichkeit von Glück.
Vor ihren Blicken ummantelte sich die Dorfwelt behutsam mit der Sanftmut der Schneedecke. Erinnerungen tanzten und träumten mit den Flocken.
Vergangenheit wirbelte auf.
Verändern wollten sie die Welt mit ihrer Liebe zum Leben, mit Toleranz, Weitblick und Akzeptanz. Sie dachten in großen Dimensionen, wenn sie nächtelang mit ausländischen Freunden und Studenten diskutierten, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe. Die kleine Mansardenwohnung im Londoner Norden gewöhnte sich an unendliche
Gespräche und eine bunt gemischte Gesellschaft. Sie waren sich darüber im
Klaren, dass der Melaninanteil der Haut keineswegs den IQ oder den Charakter eines Menschen bestimmen könne. Sie schätzten und bewunderten jede Andersartigkeit und empfanden Neugierde auf ein näheres Kennenlernen, auf andere Gewohnheiten und Lebensformen.
Längst hatte sie sich in den sprachbegabten, hochgewachsenen Lokoka aus dem Kongo verliebt. Er wurde ihr heimliches Vorbild auf den Stufen der Karriereleiter, war er doch bereits in jungen Jahren Regieassistent eines Wissenschaftssenders.
Spannende Erzählungen aus seinem Leben fesselten nicht nur ihre Gefühle. Seine Gestik glich einer wundersamen Pantomime aus dem Reich der Sinnlichkeit.
„Sie werden unser Kind nur im Babyalter süß finden“, hatte er damals immer wieder beteuert.
„Du wirst es als Mutter später zu spüren bekommen,
du kannst es mir glauben!“
Sie hatte die Wolken verscheucht und gelacht: „Dudarfst nicht so schwarz sehen, nur weil du so aussiehst!“
Aline wurde ein so niedliches Baby, dass viele Damen bei ihrem Anblick in Entzückensschreie ausbrachen. Eine sich selbst blamierende Bewunderung gipfelte gar in der unsinnigen Frage: „Wie kommt man denn an ein so süßes Schokoladenbaby?“
Heute hätte sie ,durch Negervögeln‘ geantwortet. Doch damals zu verletzbar, hatte sie weniger Mut, mochte die Nähkästchenidylle bürgerlicher Weiblichkeit nicht zerstören. Sie wollte auch nicht der ganzen Welt beweisen und erzählen müssen, wie sehr sie den dunkelhäutigen Vater ihres Kindes liebte.
Immer wieder hatten sie sich in ihrer Verliebtheit eine Welt ohne Grenzen, ohne Hass und ohne Herkunftsstolz herbeigeredet. Sie versuchten sich vorzustellen, was mit der sogenannten nationalen Identität passieren könnte, wenn sich eines Tages tatsächlich alle Rassen dieser Welt miteinander vermischten.
Könnte es die Werte einer menschlichen Gesellschaft vernichten?
Gäbe es einige Konfliktpunkte auf dieser Erde weniger?
Würden Bevormundung und Vernichtung anderer Völker aufhören?
Sie fanden keine Antwort – auch nicht für sich.
Sie dachte an die Reise durch Lokokas Heimatland. Auch dort hatten sie nicht nur Sympathie für ihr Kind und ihre Verbindung erfahren?
Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück in Erinnerung daran, dass ein bunt dekorierter Medizinmann während eines rituellen Tanzes blitzschnell auf sie zugesprungen war. Fast hätte er sie mit seiner Speerspitze verletzt, wäre sie nicht rücklings in die Arme ihres Beschützers gefallen.
Alphonse – so wurde Lokoka dort manchmal mit seinem französisch übersetzten Namen angeredet – überspielte alles mit seinem perlenden Lachen und einem „C’est la vie!“
Im Familienkreis begegnete man ihnen im Kongo überaus liebevoll und bewundernd, doch versteckte Blicke manch dunkler Fremder verrieten Ablehnung und Hass. Besonders, wenn diese Starkbier aus Mais und
Bananen getrunken hatten, wenn drohende Gebärden sie zusätzlich erschreckten.
Sie glaubt heute noch, dass Lokoka bei der Übersetzung deren Bemerkungen von Lingala ins Englische gemogelt hat, um sie mit der Wahrheit zu verschonen.
„Wir sollten in London oder Brüssel leben“, hatte Lokoka damals gemeint.
„Ich kann in beiden Städten eine feste Anstellung bekommen. Dort gibt es einen gepflegten Umgang mit Farbigen.“
Aber sie zog es wieder zurück nach Deutschland, in
die Nähe ihrer Eltern. Was sich so praktisch und bequem anließ, brachte den
Bruch ihrer Liebe, noch bevor sie heiraten konnten.
Natürlich trennen sich unzählige Paare auf der ganzen Welt, beruhigte sie sich selber. Nur bei ihr schien es verziert zu sein mit dem Spruch: „War ja nicht anders zu erwarten!“
Doch damit löste sie sich keinesfalls von der Schwiegerfamilie. Im nächsten Jahr wollte sie mit Aline zu deren zehntem Geburtstag nach Kinshasa fliegen und in Brazzaville Lokokas Angehörige besuchen.
Bei dem Gedanken daran glänzten ihre Augen. Denn anrührende Briefe bekam sie nicht nur zu Weihnachten. Der Stolz auf das ‚hübscheste Enkelkind der Welt‘ sprach stets aus allen Zeilen der Großeltern und die Freude auf ein ständig ersehntes Wiedersehen.
Auch sie konnte den Stolz auf ihre Tochter nicht verbergen und nannte sie insgeheim: „Mein Honigmädchen!“
Sie wusste um die erotische Ausstrahlung einer dunklen Schönheit und um die damit verbundenen Risiken. Sie wollte ihre Aline vor den Ansprüchen
berauschter Dummköpfe bewahren, die sogenannte ‚Karierte‘ besonders geil
finden. Sie wollte ihr Kind davor abschirmen, wann immer es in ihrer Macht
stand.
Sie straffte ihren Körper, atmete tief durch, fühlte sich stark, jedenfalls in diesem Moment.
So manche Blicke der Dorfbewohner wurden zwar versteckt wie kleine Pfeile abgeschossen gegen die Neue, gegen die Alleinerziehende. Das konnte sie spüren. Aber bis jetzt war noch kein böses Wort gefallen. Lokoka würde nicht Recht behalten. Die Deutschen waren weltoffener geworden. Als erprobte Touristen übten sie lange schon Toleranz und gingen friedvoll mit ihren fremdländischen Mitbürgern um, abgesehen von vereinzelten Übergriffen, die keinen Platz in ihrem Gedächtnis fanden.
Sie zuckte zusammen, als sie auf die Dorfstraße blickte. Aline schleppte sich den Gehweg hinauf, stolperte und wankte auf lahmen Beinen. Von Kopf bis Fuß war sie mit Schnee zugepatscht, das Gesicht von Tränen verschmiert, die Haare zerzaust.
Voller Panik lief sie ihrer Tochter entgegen.
„Was um Gottes Willen ist passiert?“
Aline konnte nicht antworten, wurde immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt, konnte nicht durchatmen, konnte nicht aufhören zu schluchzen. Nur bruchstückhaft stammelte sie:
„Jungen – aus der Schule – Neger – bleichen – Neger
bleichen – haben gegrölt – meinen Kopf – in den Graben gesteckt – nur mich –
nur mich – festgehalten – gelacht – auch die Mädchen – immer wieder – bleichen – bleichen!“
Aline zitterte, rang nach Luft.
Mit beiden Händen schüttelte sie ihr Mädchen.
„Sie haben es nicht so ...!“
Ihre Stimme erstickte.
Sie nahm ihr Kind in die Arme, wiegte es mit ihrem
Körper. Tränen liefen über ihr Gesicht.
Jutta Kieber
(erschienen in: "Zwei Seiten" Geest Verlag 2003 und
in „Pardon auf den Lippen – Geschichten und Gedichte“ Engelsdorfer Verlag 2013)