Nächtliches Missverständnis

„Und dann die Hände zum Himmel .... und keiner ist allein!“ Dieses verdammte Lied ging ihr nicht aus dem Schädel. In Gedanken summte sie immer noch. Ganz automatisch zappelte dabei ein Arm in die Höhe.

Sie war längst wieder allein, brachte sich selbst nach Hause und marschierte auf einsamer Landstraße dem Nachbardorf entgegen.

 

Der dicke Nolte hatte doch tatsächlich Sternchen in den Augen, als er sie in Webers Rosen-Datscha entdeckte, dekoriert wie ein Schulmädel.

Die Zuckertüte ihres Enkels hatte nicht einmal einen ganzen Tanz auf

ihrem Kopf ausgehalten, so sehr hatte er sie hin und her geschwenkt.

„Darf ich Dein Pennäler sein“, hatte er ihr ins Ohr gesäuselt und dabei versucht, den BH unter dem umgeschnallten I-Dötzchen-Schultornister auf ihrem Rücken zu öffnen. Und das mit seinen klobigen Fingern, durch den Blusenstoff hindurch. Dieser alte Honigtopf hat doch nie eine Penne von innen gesehen. Hat sicher zu viel „Schulmädchenreport“ in seinem Kammerkino konsumiert, gleich nach der Wende. Ihre Gedanken schickten ein Schmunzeln auf summende Lippen.

Sie schreckte zusammen. Ein Auto überholte sie, ein Polizeiauto. Schwippfröhlich dachte sie an mehr Sicherheit auf nächtlichen Wegen.

Circa fünfzig Meter vor ihr blieb der Wagen stehen. Sie verlangsamte ihre Schritte. Als sie nahe genug am Auto war, stieg einer der Polizisten aus und kam auf sie zu.

„Guten Tag! Personenkontrolle! Können Sie sich ausweisen?“, kam es knapp aus ernstem Gesicht.

„Wie bitte? Ausweisen? Wieso ausweisen?“

Sie spürte einen dicken Kloß im Hals, den sie kräftig mit der aufkommenden Angst hinunter schluckte.

„Seit wann muß man sich als Fußgänger ausweisen? Habe ich etwa die Geschwindigkeit überschritten?“, witzelte sie.

Der junge Ordnungshüter schaute sie streng an, verzog keine Miene.

„Ich habe keinen Ausweis dabei, hab‘ ihn zu Hause, in der anderen Tasche!“

„Aber Sie haben sich jederzeit....!“

„Ja, ja, schon gut! Ich heiße Renate Krieger und wohne in Hadorf, Wacholderweg 16. Reicht Ihnen das! Oder sehe ich etwa aus wie eine Verbrecherin?“

Angreifen, meldete sich ihr kleiner Biermut, nur nicht schlapp machen!

Der Beamte kam nicht mehr zu Wort. Schrill und laut schimpfte sie, als müsse sie um Hilfe schreien.

„Woher soll ich überhaupt wissen, daß Sie echt sind? Man sieht und hört ja so viel! Im Fernsehen z.B.! Falsche Polizisten und so! Haben Sie etwa die Hand schon am Revolver, wie das jetzt Vorschrift ist? Und das bei einer wehrlosen Frau? Das sind ja glatt amerikanische Methoden! Sind wir hier jetzt auch schon so weit? Soll ich mich vielleicht auf den Boden schmeißen, die Hände in den Nacken reißen? Da müßt ich ja bescheuert sein!“

Sie rang nach Luft und sah nur kurz in das käsige Gesicht des Uniformierten, der gerade zur Antwort ansetzen wollte. Doch sie legte gleich nach:

„Und glauben Sie ja nicht, daß ich jetzt in Ihre Karre steige, um meinen Ausweis zu holen! Ich gehe zu Fuß nach Hause! Basta! Das ist ja nicht zu fassen!“, zischte sie in den Nachthimmel.

„Da komme ich von einer Feier und laufe friedlich auf dem Fußweg nach Hause. Hab mein Auto extra nicht genommen, weil ich ein Bierchen trinken wollte, und dann das!“

Der zweite Beamte stieg aus dem Streifenwagen und kam näher, bedrohlich näher.

„Und wenn ihr Spaß haben wollt, Jungs, dann sucht euch eine Jüngere, nicht mit mir!“ Jetzt zitterte ihr Stimme. Ihre Beine knickten kurz ein, aber sie hielt sich aufrecht.

„Guten Tag, ich bin Hauptwachtmeister Wenzel.“ Tief und wichtig klangen seine Worte.

„Sie sind Frau ...?“

„Krieger, Renate Krieger!“

„Frau Krieger, wir möchten sie nicht erschrecken. Aber ich wollte grad’ folgende Meldung machen: Hilflose weibliche Person, ca. 60 Jahre alt, mit Schulranzen auf dem Rücken und Zuckertüte im Arm, gegen zwei Uhr nachts zwischen Hadorf und Hohleben zur eigenen Sicherheit aufgenommen. Wahrscheinlich dement!“

 

Jutta Kieber