Mein visueller Rundblick mit dem Herzen (im Bottroper Süden)

Nach dem ersten Schluck Kaffee am Küchentisch, noch vor der allmorgendlichen Zeitungsschau, hüpft mein prüfender Blick auf den schönsten Aussichtsturm unserer Stadt. Nur bei bewölktem Wetter beschleichen mich kleine Ängste, er könnte wie einst die Aliens über Nacht verschwunden sein.

Unser Tetraeder verstreut stolze Signale, lugt kess hinter dem großen Giebel unseres Nachbarhauses hervor, verstaut alle Bewunderung in seinen Dreiecken. Mein Schreibplatz in der ersten Etage gestattet fast verschämt einen pittoresken Blick aus dem Fenster, versöhnt mich auf wundersame Weise mit dem Umfeld eines nüchternen Industriegebietes im Bottroper Süden.

Wie eine gelungene Kameraeinstellung hängt der Malakoffturm an der Knappenstraße sein imponierendes Rad in die Wolken, reckt sein Rückgrat in den harmlosen Übertage-Himmel. Zwischen hohen Laubbäumen und nachbarschaftlichen Zypressen gebietet er Einhalt und Erinnerung als Zeichen der Verehrung.

In meiner Wahlheimat Ruhrgebiet betrachte ich mit Bewunderung die Fördertürme des Bergbaus, die sichtbaren Zeugen einer wertvollen und mühevollen Arbeitswelt, die im dunklen Bauch unserer Erde ihre dramatische Existenz meistert.

Mit großer Inbrunst und Gänsehaut bis unter das Kinn habe ich  in jungen Jahren und in bergbaufremden Wohnorten im Chor das Steigerlied mitgesungen, nicht ahnend, dass ich eines Tages im Herzen des Bergbaus wohnen werde – gleich neben einer Steigerstraße.

Der große Zampano, der geheimnisvolle Puppenspieler, so meinte einst mein Großvater, zieht an den Fäden deines Schicksals, und du musst ihm folgen, ob du willst oder nicht. Und dieser muss auf geheimnisvolle Weise meine Fäden nach Bottrop gezogen haben.

Abgesetzt hat er mich auf einem besonderen Stückchen Erde, wo nur einen Steinwurf von uns entfernt die Knippenburg gestanden hat.

Es gab sie nicht mehr, als wir 1975 in der Brakerstraße unsere Selbständigkeit festzurrten. Und es hat ein Weilchen gedauert, bis ich erfuhr, dass eine berühmte Lyrikerin im Hause Knippenburg einige Monate ihres Lebens verbrachte – auf Einladung ihres Freundes Friedrich Carl Devens.

Eine grüne und erquickende Oase rund um das Schlösschen soll die hübsche Dichterin Luise Hensel bis in ihr lyrisches Herz angeregt haben, in lobenden Versen die Knippenburg zu besingen und auch jenes inbrünstige Gebet zu verfassen, das auf wundersamen Wegen durch die weite christliche Welt reiste und große Berühmtheit erlangte.

Das Gedicht 'Müde bin ich' – eine Perle deutscher religiöser Lyrik – feiert im nächsten Jahr seinen 200. Geburtstag.

Ich bin sicher, dass meine Mutter im weit entfernten Königsberg in Ostpreußen nichts wusste von der Stadt Bottrop, von sommerlichen Aufenthalten der Dichterin auf Schloss Knippenburg.

Mit gefalteten Händen habe ich in Kindertagen mein 'Müde bin ich geh zur Ruh' nachgesprochen – vor dem Einschlafen, jeden Abend. Doch nach der ersten Strophe kam bereits das 'Amen'.

Viel später erst habe ich begriffen, dass mit 'Vater lass die Augen dein' nicht mein eigener Papa gemeint war, den wir nach der Flucht 1945 aus Königsberg nie wieder sehen sollten. Vielleicht schaffte es die zweite Strophe auch nicht, die Erinnerungen an den blutigen Weg unserer Flucht wegzusperren.

Aber sehr dankbar bin ich meiner Mutter, dass sie mich mit diesem kurzen Gebet herangeführt hat an das wohl erste Gedicht meines Lebens.

Die Liebe zu lyrischen Zeilen muss sich tief in mein Herz gelegt haben.

Mit großem Eifer lernte ich zu Schulzeiten Liedtexte und Gedichte freiwillig auswendig, empfand die Melodie der gehobenen und gereimten Sprache wie himmlische Wortmusik.

Und heute darf ich sie selbst entstehen lassen: Gedichte und Texte "ohne Gebrauchsanweisung" – zu eigener und manchmal auch fremder Freude.

Das Leben hat mich einfach nach Bottrop gespült, zwischen Devensstraße und An der Knippenburg zum'Fabulieren' abgesetzt.

Ich weiß nicht, ob es der große Zampano so gewollt hat. Ich bezeichne es dankbar als 'Gunst des Himmels', dass ich Spielraum gefunden habe zwischen zwei der bekanntesten Wahrzeichen unserer Stadt – inmitten von Geräuschen einer pulsierenden Gegenwart.

In einem WAZ-Artikel aus dem Jahre 2012 stand geschrieben: "Heute wird 'An der Knippenburg' weder gedichtet noch Obst angebaut."

Vielleicht lässt sich diese Aussage jetzt schon ein wenig widerlegen.

 

Jutta Kieber

erschienen in: "Bottroper Klümpkes" - 2016