Generalprobe

 

Ihr Schritt stoppt. Sie dreht sich um, steht wie verwurzelt, erschrickt. Es wird niemand merken. Da sitzt sie wieder, ihre schwarz-weiße Katze. Hockt auf dem Torbalken, wie manchmal, wenn sie morgens den Hof verlässt.

 

Noch einmal kehrtmachen. Die Nase in das glänzende Fell drücken. Den Duft aufnehmen, bewahren für die kommende Zeit. Nein. Behalt dich wohl, geliebte Mieze. Zügig weiter gehen. Fenster missachten, Gardinen, die sich womöglich verschieben. Sicher nicht. Einbildung kann den Mut löschen.

 

Hastige Schritte am Kirchhof vorbei. Mächtig schiebt sich die romanische Dorfkirche in den Morgen. Frühlingssonne blitzt in die Gedanken.

‚Ein’ feste Burg ist unser Gott’! In ihr summt die Melodie. Schon fast vergessen. Sie war aus der Kirche ausgetreten.

‚Wenn Sie Lehrerin in unserem Arbeiter- und Bauernstaat werden wollen, müssen sie unserer Ideologie treu sein. Sie sollen eine sozialistische Generation erziehen im Sinne der Weltanschauung von Marx und Engels’.

 

Der Bus bringt sie wie jeden Werktag von ihrem Dorf nach Magdeburg. An diesem Samstag ist er bunt besetzt. Schwätzende Stadtbesucher, dösende Schichtarbeiter. Niemand, mit dem sie reden muss.

Sie trägt das rote Kostüm aus dem Westen – ein getragenes von einer Bekannten - für ein paar Ostmark abgekauft. Mutter hat den Rock erst letzten Sonntag gekürzt.

Sie fühlt sich darin nicht wohl, zu fraulich für ihre 20 Jahre. Es passt zur

heutigen Generalprobe, knittert nicht. Modisch abgestimmt die weißen

Halbschuhe, aus Schweinsleder. Täglich hat sie danach gefragt, über einen Monat – im Schuhgeschäft auf der Wilhelm-Pieck-Allee. Glücksmomente, als die Sommerschuhe endlich eingetroffen waren, noch dazu in passender Größe.

 

Die Arbeiterfestspiele in Magdeburg werden pünktlich stattfinden, hatte der Leiter der Rezitatoren- und Laienspiel-Arbeitsgemeinschaft am Institut für Lehrerbildung erklärt.

Die Text-Generalprobe findet diesen Samstag in der Turnhalle statt.

Die Brecht-Rolle spielt sie im Schlaf. Dennoch brodelt Lampenfieber durch ihren Magen, lässt ein unwohles Gefühl wachsen.

Heute muss alles funktionieren.

 

Zur Totenfeier von Wilhelm Pieck hatte sie Anfang September – gleich zu Beginn ihres Studiums – eine besonders prekäre Aufnahmeprüfung für die Rezitatorengruppe bestanden.

„Morgen werden Sie ein Gedicht zum Tode unseres Staatspräsidenten vortragen, in unserer Aula. Sie können vom Blatt ablesen!“

Die imposante Stimme des geachteten Germanistik-Dozenten hatte Widerspruch nicht erwartet, war Botschaft und Befehl zugleich.

Blass war sie damals vor dem Auftritt, hatte dauernd das schwarze

Kleid zurechtgezupft, die feuchten Hände gerieben.

Sie sieht sich auf das Podium treten. Nicht lächeln. Über tausend Köpfe hinwegblicken. Noch vier Schritte bis zur Mitte. Hinter ihr an der Wand das großformatige Porträt des Staatspräsidenten.

„Wir haben dein Bild mit Lorbeerblättern geschmückt...“, der Anfang des Gedichtes. Sie kann ihn heute noch auswendig.

Unzählige unbewegte Gesichter verschmelzen zu einer starren Masse. Kein Versprecher, trotz der Länge des Textes.

„Herzlichen Glückwunsch! Sie sind jetzt mein Mädchen!“

Ein Händeschütteln. Dem sonst streng geschlossenen Mund des Dozenten war ein Lächeln gelungen.

„Meine beste Rezitatorin geht nach diesem Studienjahr in den Beruf. Wir werden noch feilen müssen. Aber Ihre Stimme passt. Endlich habe ich Ersatz gefunden!“

Rot war sie geworden.

Der an diesem Lehrerinstitut bestaunte Rhetoriker, der Artist des Rezitierens hatte ihr einen Blumenstrauß in den Schoß gelegt. So fühlte sie.

Er konnte faszinieren mit einer Interpretation, die seine Zuhörer mit beseelter Literatur umhüllte, wo immer er auftrat. Sein Wortspiel glich verbaler Musik, lockte wie durch Zauberei in die Welt der Dichtung, pflanzte sie in die Herzen.

 

„Sie werden mein Pendant, die weibliche Stimme der Liebeslyrik!“ In seinen Worten Wärme. Sie spürt sie erneut.

Sie darf als einzige Studentin der Hochschule mit dem geschätzten Literaturkenner und zwei Musikpädagogen Kulturabende mitgestalten, Lesungen – eingerahmt in klassische Musik – ausschließlich Liebeslyrik. Vom Minnegesang bis Goethe, von Heine bis in die Gegenwart – im Wechsel vorgetragen. Das heißt sich anpassen. Dem beeindruckenden Timbre des Könners nahe kommen.

Ein Geschenk. Eine besondere Auszeichnung. Die Darbietung – eine Seelenmassage. Nur musikalisch begleitet, ohne parteipolitisches Moment, wie sonst bei kulturellen und anderen Veranstaltungen verabreicht wurde. Brave und freche Liebesverse. Auch aus ihrem Mund. Gerötete Ohren konnte sie nicht verstecken.

Jede von ihm gesprochene Zeile schien auf Büttenpapier

gedruckt, mit einem zarten Zierband geschmückt. Die körperliche und geistige Nähe ihres Rollenpartners hatte einen Kuss auf ihre Lippen gehaucht, den Anflug von Zuneigung und Schwärmerei erlaubt.

„Willkommen und Abschied“! Jetzt nicht! Nicht daran denken.

Offiziell siezte er sie. Ein leises Du entlockte ihm das poetische Miteinander. Sie verriet es keiner Freundin, verbarg es wie eine geheime, kindliche Freude.

 

Die Kehle hatte er sich aus dem Hals geschrien bei den Proben mit der gesamten Theatergruppe.

Das Laienstück war vorgesehen für die Magdeburger Arbeiterfestspiele im Juni 1961 – gigantisch geplant.

Volkseigene Betriebe, Verwaltungen, schulische Einrichtungen sollten ihre

Bühnenkunst im Sinne eines sozialistischen Kulturfestivals einem breiten

Publikum vorstellen.

„Wir müssen herausragen als Institut für Lehrerbildung, einen Vorbildcharakter zum Ausdruck bringen. Halten Sie sich das vor Augen. Strengen Sie sich an!“

 

Kurze Stücke aus „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ von Bertolt Brecht unterbrachen das in einer Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaft spielende Liebesstück.

Sie fühlte sich wohl in ihrer Brecht-Rolle. Sprachstärke, Ausdauer

wurden verlangt, bei strenger Regie. Das gefiel ihr.

Eine DDR-Propaganda sollte die Szenen der Gegenwart von

denen der Hitlervergangenheit trennen. Die Rezitation wurde ihr zugeteilt.

„Nein, nein, nein!“, hatte der Dozent gebrüllt. „Das ist

Agitprop und keine Liebessäuselei! Das

muss peitschen, überzeugen, aufrütteln. Sie können es besser, glaubwürdiger, tiefer in der Stimmlage. Das weiß ich! Jedes Wort muss wie ein Bollwerk für sich stehen, muss unter die Haut gehen!“

Sie hatte nicht ausmachen können, wie ernst es ihm um diese Anweisung war. Keine Geste, keine Mimik hatte den Wahrheitsgehalt seiner Aussage bekräftigt.

Heute muss die Agitation echt klingen. Vor großer

Kulisse, vor Kommilitonen, vor Lehrern und Parteigenossen, vor FDJlern und

Zaungästen muss sie überzeugen. Sie ist froh, dass Mutter und Bruder sie nicht sehen, nicht hören können. Zu Hause hatte sie nichts von dem Propaganda-Satz erzählt, niemandem im privaten Kreis. Aus ihrer Brecht-Rolle aber hatte sie vorgetragen, bühnenlaut, mit weiter Geste, mit Stolz.

 

Quirliges Treiben in der Turnhalle. Studenten suchen Stehplätze, reden wichtig, gestikulieren, versprengen Unruhe. Lehrer rufen Mitwirkende in den Bühnenbereich, zerbrüllen mit ihren Anweisungen den hohen

Geräuschpegel. Zuschauer werden zur Ruhe gezischt.

Die politische Parole soll zwischen den unterschiedlichen Bühnenstücken ertönen. Laut und deutlich.

‚Jedes Wort muss auf einem Fundament stehen, wie

eingemeißelt!’, hat sie wieder im Ohr. Diesmal mit Lautsprecherverstärkung.

Noch nie zuvor geprobt.

 

Sie wird bleich. Drückt die Hand einen Moment in die

Magengrube. Ihr Nacken versteift. Ihre Kehle trocknet. Ihr Blick sucht fernen Halt.

Sie tritt ans Mikrophon:

– „Der Sozialismus siegt!“ –

Sie erschrickt. Ihre Stimme wird von den Wänden zurückgeworfen, fremd und kräftig. Eine innere Schnur engt sie ein, von Peinlichkeit umhüllt, wie erwischt bei einer Notlüge.

Sie schluckt das Unbehagen hinunter, verlässt mit heißem Kopf die Szene, sieht in geschlossene Mienen.

„Das war gekonnt!“. Kurz springt ein Lächeln in sein Gesicht.

Die Worte des Dozenten legt sie in ihr Gepäck.

 

Auf dem Weg zum Hauptbahnhof schiebt sich ein Student an ihre Seite.

„Warum bist du heute so schick angezogen?“

Die Frage rüttelt sie in die Gegenwart. Ihre Stimme hakt.

„Wir fahren in unsere neue Heimat. Meine Mutter hat sich in, in...Thüringen eine Wohnung ausgesucht. Wohnungstausch, weißt du. Sie ist dort geboren.“ Wieder dieser neugierige Mann. Beim letzten Ernteeinsatz der Studenten hatte er sie umgarnt, wollte ihr imponieren. Ein überzeugter Kommunist, aus dem Westen übergewechselt, nun glücklich in der DDR. –

Schmal bleibt ihr Lächeln im heißen Gesicht. Ihr Denken stolpert.

„Na, dann viel Glück!“ Er wendet sich zur Straßenbahnhaltestelle, verschwimmt in ihren Blicken. Sie atmet tief durch, setzt festere Schritte. –

 

Mutter läuft auf dem Bahnsteig auf und ab, schwerfällig in ihrer Fülle. Ihre Augen strahlen feucht auf, als sie ihre Tochter entdeckt.

Der Zug nach Berlin ist vollgestopft. Sie haben einen Sitzplatz bekommen.

Aufgesetzt das Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Für Zuhörer bestimmt. Ob die Nenntante in Potsdam wohl noch das Patenkind erkennt, nach all’ den Jahren. Ein Brief ersetzt ja kein Wiedersehen.

„Freust du dich darauf?“ Mutter fragt etwas zu laut.

Sie nickt, holt ein Reclambuch aus der Tasche.

Mutter trägt ihren kleinen dunkelroten Hut. Er gibt ihrem Erscheinungsbild eine bessere Proportion. Mutters Augen flackern, sie wischt sie ständig aus, schaut in ihre Einkaufstasche, zieht ein umhäkeltesTaschentuch hervor und knorkelt es zwischen den kurzen Fingern.

Mutter sagt immer ‚knorkeln’, kommt wohl aus Ostpreußen.

Ihre Augen sprechen zu ihr. Ihr Lächeln mit geschlossenen Lippen – ein Zucken. Kein bekanntes Gesicht im Abteil. Das beruhigt.

 

Kurz vor Berlin Stille unter den Reisenden. Ein starker Ruck bringt das große Schweigen. Der Zug bleibt stehen. Türen werden aufgerissen, krasse Männerstimmen blaffen aus dem Nachbarabteil. Mutter kramt nach ihrem Ausweis. Ihre Wangen färben sich jählings, lassen kleine Äderchen weinrot aufleuchten.

Lieber in diesem Moment, da alle mit sich selbst beschäftigt sind.

Sie wirft ihr einen wissenden Blick zu. Nur keinen Herzanfall, solange kontrolliert wird.

„Hast du deine Medikamente dabei?“ „Natürlich!“

Weinerlich – Mutters Stimme. Flach drückt sie ihre Hand auf die Herzseite.

 

Nur zwei Personen aus ihrer Familie auf der Fahrt nach Berlin. Das ist besser.

Ihr Bruder hatte noch nie den Mund halten können. Konnte sich nicht mit Schweigen tarnen, wie es die meisten Leute hier in der DDR schafften. Musste fluchen bei der Musterung zum Reservistenlehrgang der Studenten. Seinen Widerwillen gegen den Dienst an der Waffe ausspucken,

lauthals. Diese Angst in seinen Augen. Das Verhör bei der Stasi.

„Die haben einen Verhafteten blutig geschlagen. Hab’s gesehen, als eine Tür aufsprang. Schnauze halten soll ich. Ich hau ab!“

Mutter hatte geheult: „Dann gehen wir alle! Wir reißen die Familie nicht auseinander!“

 

„Ihre Ausweise bitte!“ Schroffer Befehlston. Ernste Miene. Jung, der Grenzer. Sieht fesch aus. Sicher nur die Uniform. Ob er auch

lächeln kann? Mutter bekommt ihren Ausweis schnell zurück.

„Und Sie? Gepäck dabei, Koffer, Reisetaschen?“

Sie schaut zu ihm auf. Warme, dunkle Augen. Nur nicht flattern mit der

Stimme.

„Nein! Wir bleiben nur einen Tag in Potsdam, bei meiner Patentante!“

„Sie sind Studentin?“ –

„Ja, in Magdeburg!“

Kein Kommentar.

Sein Blick wandert über ihre Gestalt. Eine braune Kladde beschäftigt

seine Hände. Dem Fahndungsbuch entströmt ein rauchiger Geruch, besetzt ihren Atem.

Uniformknöpfe schieben sich in ihr Buch. Wie ein Stein liegt es in ihrem

Schoß. Ihre Finger verkrampfen, pressen Buchseiten zusammen. Sie zwingt sich zum Lesen, darf den Kopf senken.

„Das siebte Kreuz“, Pflichtlektüre, für die Fahrt ausgewählt. Buchstaben springen aus den Seiten, purzeln ihr entgegen, feixen. Kleine schwarze Spieße duellieren miteinander. Zusammenhänge – keine zu finden. Das Herz hämmert, die Halsschlagader will bersten.

Das Blättern über ihrem Haar zerkratzt die Stille des Abteils. Sie schluckt Speichel in den trockenen Hals. Mutter jetzt nicht anblicken, nicht deren Angst in den Augen lesen, nicht hektische Flecke wachsen sehen.

 

‚Das Institut für Lehrerbildung in Magdeburg hat sich einstimmig entschlossen, den westlichen Sektor von Berlin und Westdeutschland nicht mehr zu bereisen!’ So ähnlich hieß das Gelöbnis, das ihre Partei- und FDJ-Leitung vor kurzem allen Studierenden abverlangt hatte. Sie hatte per

Handzeichen mit abgestimmt, hatte wie so oft das Denken in andere Richtungen geschickt, wenn es um politische Doktrin ging.

 

„Öffnen Sie ihre Handtasche!“

Der junge Mann angelt hinein.

Gut, dass sie keinen Ersatzschlüpfer dabei hat! Kamm und Spiegel, Portemonnaie, Federhalter, Lippenstift, Zahnbürste laufen durch seine Finger.

Lange dauert es, zu lange. Endlich!

Er gibt ihren Ausweis zurück. Wortlos.

Sie steckt ihn in die Umhängetasche. Jetzt zittert ihre Hand. Sie hält sie in der Tasche gefangen, lässt sie unnötig darin kramen.

 

„Folgen Sie mir nach draußen und bringen Sie Ihr Gepäck mit!“

Die Aufforderung gilt den Eheleuten gegenüber.

Blässe überzieht deren Gesichter, ihre Köpfe senken sich synchron. Sie verlassen das Abteil, sprachlos, ohne ein ‚Wiedersehen’, ohne einen Blick auf Mitreisende.

 

Jetzt wird sie die Zugtoilette nicht benutzen. Es ist auszuhalten. Sie rückt näher an Mutter heran, spürt deren heißen Körper, genießt die Wärme wie eine Schutzhülle.

Der Zug fährt weiter. Leer bleiben die Plätze gegenüber. Gedämpft die Gespräche, ohne Inhalt.

 

Berlin hat Millionen Ohren. Umsteigen in die Stadtbahn. Nichts Verdächtiges reden, keine falsche Richtung wählen, keine S-Bahn verwechseln.

„Friedrichstraße!"

Schriller Lautsprecher. Die S-Bahntüren rücken auseinander. Staubmäntel schwingen herein.

„Ihre Ausweise! Los, los!“ Ein kleiner Hund bellt zurück.

Lehn dich an, Mutter. Jetzt nicht schlapp machen. Nur noch ein

paar Stationen. Bluthochdruck ist normal bei einer älteren Frau. Stehen bleiben in der Nähe des Ausgangs. Nicht erst setzen, wenn es an der richtigen Station schnell gehen muss. –

„Raus, raus, raus!“, bölkt es in ihren Nacken.

Sie knickt in den Knien ein, drückt sie gegen die Innenwand der S-Bahn, schaut sich zaghaft um.

Zwei junge Frauen werden auf den Bahnsteig geschubst, schleppen Koffer mit sich.

Ungewöhnlich lange steht die S-Bahn auf dieser Station. Die Türen bleiben geöffnet. Sie schiebt ihr Tuch an den pochenden Hals, die Ohren rauschen. Bewegung vor den Fenstern.

Der Zug fährt. Hörbares Ausatmen.

Mutters wässriger Blick erreicht ihre Augen. Sie reden kein Wort.

„Charlottenburg“ – aussteigen. Die Luft tief einsaugen.

 

Es ist noch nicht zu Ende. Sie werden umkehren, zurück gehen, wenn es einer von ihnen nicht schaffen sollte.

Die Gedanken schieben sich vor jeden Schritt.

Bloß nicht die verbliebene Familie trennen, wo es keinen Vater mehr gibt.

 

Ihr Bruder wird am selben Tag ohne Gepäck von Dresden abreisen. Als Student der Pädagogischen Hochschule wird man auch ihn streng kontrollieren. Treffpunkt bei Westberliner Bekannten, spätestens am Abend. Ansonsten – wieder nach Hause.

 

Mutter sagt noch immer nichts, schafft nur kurze Schritte, bleibt stehen, tröpfelt ein paar Herztropfen auf die Zunge.

„Gott gib, dass der Junge da ist!“ Leises Murmeln. Stöhnen beim Treppensteigen.

Sie nimmt Mutters Arm, drückt ihn fest an ihren Körper. Reden kann sie nicht. Mechanisch setzt sie ihre Füße vorwärts. Lichter tanzen vor ihren Augen, bilden bunte Kreuze. Ihre Beine zittern. Sie presst Luft durch die geschlossenen Lippen.

Gebäude verschwimmen. Hausnummern schwer zu erkennen. Die Straße zieht Meter in Kilometer. Fußgänger überholen sie. Taschen – bunt gefüllt. Dekorierte Schaufenster – unscharf. Jetzt nicht.

 

Unwirklich und fremd erscheint ihr die Stadt, als wandle sie mondsüchtig durch die Nacht.

Morgen wird sie darüber lächeln, ein wenig grübeln, ihre Fantasie schelten. Sie wird die Mappe mit dem liebevoll angelegten Herbarium vervollständigen, den trockenen Duft der Pflanzen einatmen.

Ihre Katze wird ihr dabei zusehen, wird wohlig schnurren, sich in den

Tagesschlaf rollen und mit den Pfoten zucken.

 

Aus dem Abenddunst löst sich eine Gestalt, überquert die Straße, stutzt, beschleunigt den Schritt, rennt, stürzt auf sie zu.

Stumm das Umarmen, das Halten, das Streicheln.

Unbeteiligt die Häuser. Gleichgültig der Himmel.

Handrücken trocknen die Wangen.

 

(Jutta Kieber)

 

Diese Kurzgeschichte gehört zu den prämierten Texten des ersten

Literaturpreises des Freien Deutschen Autorenverbandes (FDA) 2005, Leipzig, erschienen in der Anthologie „Fortgesetzter Versuch einen Anfang zu finden“, Salon Verlag München - 2006

 

sowie in "Pardon auf den Lippen - Geschichten und Gedichte"

Jutta Kieber, Engelsdorfer Verlag 2013.