Eine Extraschicht der Poesie

 

Liszt-Etüden klingen in mir nach, legen Freude und Bewunderung in meine Gedanken. Vor uns in der Warteschlange deutet eine Frau auf ihren Flyer in der Hand.

„Ach ja, hier gibbet Pötry Slam!“ Sie spricht es aus wie „Petri Heil“.

Das Glück schiebt uns im nächsten Pulk ins Gebäude. Eine Location in Hallenlänge mit müder Luft saugt uns ein. Bis auf den letzten Platz gefüllte Stuhlreihen, viele junge Besucher, kaum Alte, vereinzelt Kinder. Längs des Saales sitzen Gelenkige auf dem Boden. Ein Bistrotisch schiebt sich in meinen Rücken. Zu meinen Füßen behindern Gesäße die Schrittfreiheit. Es wird gehen, denke ich, für eine Vorstellung Poetry. Noch nie zuvor live erlebt.

„Ich bin schon sehr gespannt“, sagt meine Stehnachbarin. „Mein Sohn findet Poetry Slam super. Er will selbst mal schreiben, nach dem Abi. Hat fast immer ’ne Eins in Deutsch!“ Ihre Augen leuchten auf.

„Wunderbar!“, sage ich. „Ich freu’ mich auch. Diese Bühnendichter müssen auch improvisieren können. Hab’ mal einen Berliner Slammer im Fernsehen erlebt, der kam schon fast an unsern Goethe ran!“

 

Vier Standmikrofone stehen auf einem Holzpodest. Die Fensterscheibe dahinter versinkt im Saalboden. Vier junge Männer auf einem Sofa, unterhalb des Podiums, lassen sie sich wie reglose Schaufensterpuppen bestaunen, transformieren Bedeutsames auf uns Wartende. Keine Ablenkung durch bunte Kulissen, keine Requisiten.

„Wortspiele und moderne Literatur brauchen keinen Bühnenschmuck“, flüstere ich meinem Mann in den Nacken.

Vorübergehende schicken ein Winken durch die Frontscheiben. Kein Darsteller reagiert, kein Besucher aus dem Publikum winkt zurück. Respektvolles Ausharren, bleierne Schwüle im hell erleuchteten Saal, raunendes Wogen in kultureller Warteschleife.

Ein Akteur betritt endlich das Podium, hantiert an den Mikrofonen, fragt nebenbei, wer noch nie einen Poetry Slam erlebt habe. Viele Arme schnellen hoch. Meine Hand und die meines Mannes sind dabei.

„Is ja wie inner Schule!“, sein Kommentar. Kleines Gelächter.

Die Mitwirkenden werden vorgestellt, springen nacheinander auf die Bühne wie Boxkämpfer. Keine Namen zu verstehen in vokaler Überdehnung. Artiger Pflichtapplaus, Lächeln auf matten Gesichtern.

Vorfreude hängt in den Wangen. Alle vier Künstler stehen nebeneinander

hinter den Mikrofonen, verkabeln sich mit den Armen, krabbeln mit ihren Händen in die weiten T-Shirt-Ärmel des Nachbarn. Ein Bärtiger lacht gekünstelt auf, als sich die fremden Finger unter seine Achseln verirren. Versprengtes Zickenkichern im Publikum.

Das zeitgleiche Aufsagen hakelt. Siamesische Vierlinge wollen sie sein, alles vereint erledigen. Zusammen reden, essen, pinkeln, lieben und so …

Die Verknüpften schwanken in ihrer Armgefangenschaft, geraten an die Mikrofone. Tonale Rückkoppelung im Raum, jedes Mal ein kleiner Hieb auf das Trommelfell. Bruchstückhafte Sätze beliebigen Inhalts, floskelhafte Albernheiten. Verstreute Lacher in den Sitzreihen.

Die Vierergruppe löst sich aus körperlicher Vernetzung. Magerer Applaus. Einer der Slampoeten blättert ein Buch auf – jetzt Einzelkämpfer, freue ich mich. Er versucht, mit Tempo den vorgetragenen Passagen Leben einzuhauchen. Ich kann die Worte nicht nicht deuten. Sein Nachbar setzt fort, verschluckt Silben, sucht die Anschlusszeile auf seinem Handzettel, grinst in den Saalhimmel, versinkt in Nuscheln und abgegriffener Redart. Wortfetzen ersticken in dumpfer Schallübertragung.

Meine Fantasie reicht nicht aus, literarische Qualität zu erkennen. Banales tröpfelt in korrekter Grammatik.

Der Dritte im Bunde tritt nach vorn. Mit aufgerissenen Augen starrt er in die Luft. Ein einziges Wort schreit er aus markiger Kehle in den Saal:  - Fotze  -

Die vulgärste Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsteil schwingt durch den Raum, unmissverständlich.

Drei Mal prallt das Wort zurück von rustikalen Wänden – außerhalb aller Zusammenhänge – unüberhörbar laut.

Augenblicklich lähmende Ruhe. Das Tuscheln verstummt. Keine Regung, kein Zwischenruf, kein Hüsteln. Alle Köpfe bleiben steinern nach vorn gerichtet, gefroren die Mienen.

Meine kulturelle Erwartung erschrickt, lässt den Verstand kreiseln. Peinlichkeit hat keine Stimme, bleibt stecken zwischen Magen und Kehle. Fragen attackieren mich wie Hirngeschosse:

‚Wen meint der Rhetoriker mit diesem Ausdruck? Alle Frauen? Deren Körperteil? Seine maskulinen Gegenspieler auf der Leserampe?’ ….

Ein Slammer erforscht mit der Nase seine Aufzeichnungen, lässt sich nichts anmerken, hämmert weiter Profanes ins Mikrofon. Die zwei anderen stehen schlaff auf ihren Vortragsplätzen.

Verstört sperrt sich meine Aufmerksamkeit. Argumente kämpfen miteinander: Einforderung von Toleranz, Publikumsbeschimpfung, purer Unsinn, brachiale Kulturverachtung? – Ich finde keine Antwort, bleibe äußerlich unbewegt wie die Besucher rundum.

Ich schaue meinen Mann jetzt nicht an, sehe nicht in das Gesicht der Mutter neben mir.

Gedankliches Verwirrspiel. Stelle mir vor, wie dieses Wort als Schallwelle durch dicke Mauern dringt, unaufhaltbar, wie die Beleidigung gleich einem Laserstrahl in die Szenerie nebenan schießt, wie sie die Fingerspitzen talentierter Pianistinnen lähmt, wie ein Aufschrei der Empörung die Zote erstickt, wie sie im tausendfachen Buhruf musikbegeisterter Zuhörer ertrinkt.

Absurde Vorstellung. Das ist eine andere

Ebene, sinniere ich. Hier agiert Wortakrobatik. Hier geht’s darum, wer am Ende die meisten Punkte für verbale Raffinessen bekommt.

Ich sehe zu meinem Mann hinüber. Unsere Augen sprechen. Wir nicken einander zu mit einer Kopfbewegung in Richtung Ausgang. Wortlos umstakeln wir Bodensitzer, sehen flüchtig in ernste Gesichter.

„Ein paar Herrschaften verlassen den Raum! Wir warten einen Moment!“ Unaufgeregt die Stimme des Moderators. Stillstand auf der Bühne. Spärliches Grummeln im Saal begleitet uns zur Tür.

‚Das muss ich mir nicht länger antun!‘, bin ich ganz nahe daran, im Foyer laut zu rufen, als würde es die Türwächter am Eingang auch nur einen Moment lang interessieren.

Wir durchqueren die enge Warteschlange vor der Kulturfabrik.

Mein „Pardon“ auf den Lippen lächelt.

 

 Jutta Kieber