Begegnung oder die Last des Andersseins

Die Schultertasche rutscht von meinem Arm, sodass ich mich bücken muss. Mein Blick fällt direkt auf ihre Gestalt. Ich hätte sie sonst übersehen in der bewegten Fußgängerzone, die Frau ohne Beine, wie mir beim ersten flüchtigen Betrachten scheint. Wie angeschraubt lehnt sie an der

Außenwand des luxuriösen Herrenausstatters. Der verwaschene Trenchcoat aus längst überholten Modezeiten passt sich dem Farbton des verputzten Gemäuers an. Sie kniet auf einer verschlissenen Wolldecke, die Unterschenkel unter dem Gesäß verborgen. Apathisch und starr wirkt sie, versunken in ihre Kopfhörerwelt aus einem kleinen Radiorekorder. Schwer und strähnig fallen blondierte Haare auf die Schultern. Ihre Augen starren durch mehrfache Glasringe einer alten Brille in eine nicht auszumachende Ferne. Sie scheint dem hektischen Großstadttreiben zu entfliehen. Ihre Gesichtszüge zeigen keinerlei Regung.

Ein paar Geldstücke liegen neben ihr auf der Sitzunterlage. An der Wand lehnt eine bunt beklebte Pappe wie ein selbst gestaltetes Plakat, das mich neugierig macht und meine Schritte dorthin lenkt. Kinderfotos kann ich erkennen, schwarz-weiße auf der einen Seite. Ein kleiner, fröhlich wirkender Junge zwischen zwei größeren Mädchen in verschiedenen Aufnahmen. Auf der anderen Seite eine sehr große und schlanke Blondine, rotes Abendkleid, tiefes Dekolleté. Unverkennbar die hier platzierte Mauerdame.

 

Ich entziffere die handgeschriebene Überschrift:

Ich war ein Mann!

Und darunter etwas kleiner geschrieben: Ich will ganz normal leben und arbeiten!

 

Plötzlich springt die scheinbar Teilnahmslose neben mir in die Höhe und erschreckt mich mit ihrer vollen Körpergröße. Rau und laut übertönt ihre Stimme das Geraune der Straße.

„Ja, ja, kommen Sie ruhig näher und gucken Sie sich an, was man mit mir macht. Ich bin keine Bettlerin, ich kämpfe hier nur um mein Recht auf Arbeit, ich lasse mich nicht vertreiben!“

Mit weiten Augen schaue zu ihr auf, spüre Hitze in mir aufsteigen. Leute bleiben neugierig stehen, verfolgen das Schimpfen der jungen Frau. Ich nestle an meiner Tasche herum und weiche den fremden Gesichtern aus, die Verachtung zeigen und böse wirken. Köpfe werden geschüttelt, gefrorene Mienen mustern uns von oben bis unten, einige Männer treten schaulustig näher. Mich kennt hier keiner, das beruhigt.

 

Zögernd und mit einem Kloß im Hals beginne ich ein Gespräch mit der hochgewachsenen Fremden. Wir drehen uns der Wand zu, rücken näher zusammen als müssten wir einander beschützen und Mithörer abschütteln.

„Sie sind noch jung, warum bekommen Sie keine Arbeit?“, frage ich mit belegter Stimme.

„Ich werde einfach nicht vermittelt, kriege keine Stelle. Aber jeder hat doch das Recht auf Arbeit!“ wird sie wieder lauter. Ihre Gesichtszüge verhärten sich.

„Natürlich, und dennoch sind in Deutschland Millionen arbeitslos, vor allem viele Frauen, das wissen Sie doch auch!“ versuche ich zu beschönigen.

 

Ich spüre auf einmal wachsende Neugier in mir, sie nagt wie journalistischer Eifer auf der Suche nach einer Aufreißerschlagzeile. Die junge Frau kommt noch einen Schritt zu mir, beginnt zögernd zu erzählen, schaut mich offen an. Ganz nah sehe ich in ihr großflächiges Gesicht mit den groben Zügen. Keine zarte Frauenhaut, stelle ich fest, aber weich geschwungene Lippen. Bilde mir ein, dass frühere Bartstoppeln sich zurückgezogen haben, um grobe Poren zu

hinterlassen, dort wo man sie sehen will. Ich weiß in diesem Moment nicht, ob ich einen Mann oder eine Frau vor mir habe, und muss wechselnde Empfindungen verscheuchen.

 

Wir stehen so nah beieinander, dass wir uns fast berühren und unterhaken können, als hätten wir wie alte Freundinnen Geheimnisse auszutauschen. Um uns zischeln freiwillige Zuschauer und zwanghaft Neugierige. Boshafte Bemerkungen prallen ab. Nur bruchstückhaft hören wir die Äußerungen flüchtiger Gaffer: Bettlerin, Drogenabhängige, Verrückte, sollte lieber arbeiten!

Unsere Blicke ruhen warm ineinander, mustern nicht, verstehen ohne Sprache. Die Augenkontakte scheinen Grenzen der Fremdheit aufzuheben. Meine anfängliche Scheu vor Indiskretion kann ich so beiseiteschieben.

„Wann haben Sie denn gemerkt, dass Sie sich als Mädchen bzw. als Frau fühlen?“

„Das weiß ich nicht mehr ganz genau, ich glaube eigentlich schon immer.“

Sie schaut in die Luft, als könne sie dort die Antwort finden.

„Als ich in die Pubertät kam, habe ich die Kleider meiner Schwestern angezogen. Dafür hat mich mein Stiefvater verprügelt. Später habe ich die Sachen heimlich probiert.“ Sie senkt den Kopf. „Ich hatte eine schlimme Kindheit. Meinen richtigen Vater habe ich nie kennengelernt. Er hat gesoffen und die Familie verlassen. Wenn ich nicht schnell genug Kopfrechnen konnte, musste ich meine Hände ausstrecken. Und Otto – so hieß mein Ersatzvater – hat mit dem Stock draufgeschlagen, bis sie blau waren!“

 

Sie dreht mir klobige Hände entgegen, die meinen Blick auf ihre abgewetzten Herrenschuhe lenken.

„Das ist ja furchtbar! Und Ihre Mutter? Wie hat denn Ihre Mutter reagiert?“

„Meine Mutter ist die Einzige aus der Familie, die jetzt noch zu mir hält. Meine Schwestern wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, seit ich eine Frau bin.“ Ihr Blick wirkt traurig.

Ich denke an meine eigenen Kinder, Sohn und Tochter, beide normal geraten. Gottes Segen? Stimmige Gene? Passende Chromosome? Eine normale Laune der Natur? Komme mir plötzlich vor wie eine Rot-Kreuz-Schwester, die bei der Fremden nach Verletzungen sucht, fast schon voyeuristisch, sich aber nicht um Symptome kümmern kann.

„Wann haben Sie sich denn operieren lassen? Und hat es eigentlich die Krankenkasse bezahlt?“ Wie profan ich fragen kann.

„Na, ja, mit 18 bin ich operiert worden, als ich selber darüber entscheiden konnte. Und meine Krankenkasse hat alles übernommen. Ich musste allerdings ein ganzes Jahr lang eine psychologische Behandlung durchstehen und habe Hormone bekommen, unheimlich viele Hormone. In Hamburg bin ich dann mehrmals operiert worden.“

 

Tausend Fragen scheinen sich lautlos auf meiner Zunge zu stapeln. Doch nicht hier in der Öffentlichkeit! Wie sieht sie nun aus - da unten? Wie nach einer Infibulation? Wie schmerzhaft ist diese Prozedur? Wächst der Busen von allein? Hat sie je die Fülle des körperlichen Liebesglücks erfahren?

„Haben Sie sich danach glücklicher gefühlt und eine Beziehung zu einem Mann beginnen können?“, höre ich mich leise fragen.

„Oh, ja, ich war sehr froh nach der Operation. Damals fiel mir ein eiserner Panzer vom Körper. Aber dann fingen die Probleme erst richtig an. Ich kann es nicht verstehen!“ Die große Frau schaut in die Ferne, presst die Lippen

aufeinander.

„Ich hatte mich mal echt stark verliebt in einen größeren Mann, der prima zu mir passte.“ Ihre Augen leuchten kurz auf. „Doch mein ‚Schätzchen‘ entpuppte sich als Schwuler. Das konnte ich nicht ertragen. Jetzt lebe ich allein.“

Sie kramt in ihrer Einkaufstasche und holt ein kleines Steckalbum hervor.

„Hier! Sehen Sie mal, Ihnen kann ich die Fotos ja zeigen, Sie sind ja selbst eine Frau. Habe ich nicht schöne Brüste? Bin ich nicht eine richtig hübsche Frau?“

Ich schaue auf ihre nackte Gestalt im knappen Spitzenslip. Beneidenswert gut geformter Busen, nicht zu groß, die Taille eher ein gerades Stück, aber die Beine ungewöhnlich lang und straff mit muskulösen Oberschenkeln, stelle ich fest. Das Zwickelteil am Höschen lässt nicht einmal eine männliche Erhebung ahnen. Dezent und hübsch geschminkt wirkt sie, mit duftig frisiertem Haar. Stöckelschuhe lassen sie fotogen in den Himmel wachsen.

„Sie sehen wunderbar aus! Sind sie mal bei einer Revue aufgetreten?“

„Nein, das heißt doch – nur einmal kurz im Bekanntenkreis, bei einer Betriebsfeier. Aber ich will das nicht, müssen Sie wissen! Ich will ganz normal arbeiten und leben, verstehen Sie, und nicht wie eine besondere Menschen-Abart auf der Bühne beglotzt werden. Ich hab’ doch einen guten Beruf, hab’ Einzelhandelskaufmann gelernt.“ Sie deutet mit dem Arm auf die andere Straßenseite. „Da drüben in dem Fischgeschäft. Jetzt wollen die mich nicht mehr kennen. Dabei habe ich immer gern gearbeitet. Und kräftig zupacken kann ich auch, ich bin gesund, hab‘ auch keine ansteckenden Krankheiten. Und Drogen nehme ich auch nicht, brauch’ auch keinen Alkohol.“ Ihre Stimme sackt ab, klingt nicht mehr fest. „Ich hatte schon mehrere Jobs, aber immer wenn die merken, dass ich eine Umgewandelte bin, entlassen sie mich. Wegen der Kundschaft und so, sagen sie, weil man ‚So-Eine‘ den Leuten nicht zumuten könne.

Aber ein geiler Chef wollte vor der Entlassung noch mit mir schlafen, als Sonderprämie, meinte er. Dieser Saukerl!“, zischt sie durch die Zähne. „Und die vom Arbeitsamt meinen, dass ich nicht vermittelbar bin. Mit 36 muss ich schon von Sozialhilfe leben. Wie soll das bloß weitergehen!“- Kaum hörbar fügt sie hinzu: „Manchmal möchte ich nicht mehr leben“!

 

Kein Gericht der Welt kann diese Unerträglichkeit regeln, beknien mich meine Gedanken.

Wer verteilt die Normen? Die junge Frau könnte meine Tochter sein,

hervorgegangen vielleicht aus meinem Sohn, wenn die Natur bei ihm Kapriolen geschlagen hätte. Eine zum Himmel schreiende Abnormität? Zum Umbringen etwa?

Würde die bedingungslose Liebe zu meinem eigenen Kind sterben? Ich muss kräftig schlucken, spüre meine feuchten Augen.

 

„Hey, du Schwuchtelperle, putz die Platte, sonst muss ich dich heute noch anstechen!“

Eine versoffene Stimme brüllt uns hinterrücks an. Wir zucken zusammen, drehen uns erschrocken um. Ein junger Glatzkopf in metallvernieteter Lederkleidung mit Springerstiefeln schwankt auf uns zu, in der einen Hand eine Bierdose, mit der anderen beult er in der Hosentasche den Schritt aus und grinst idiotisch.

Um uns herum bildet sich eine kleine Menschengruppe. Einige Leute lachen laut, andere schmunzeln selbstgefällig, manche schütteln den Kopf. Kommentare der übelsten Art verletzen unsere Vertraulichkeit.

„So was muss ich mir ständig bieten lassen. Es ist zum Kotzen!“

Meine große Straßenfreundin schimpft in die Menge, ihre Stimme zittert. Abrupt schmeißt sie das alte Kofferradio in ihre schmuddelige Straßentasche, sammelt die wenigen Münzen ein, rollt die Decke zusammen und klemmt ihre Collage unter den Arm. Als gäbe es mich überhaupt nicht, spricht sie ins Leere: „Keiner kann mir helfen, es ist immer das Gleiche! Alle sind nur geil, gemein und neugierig. Ich bin ja auch nur ein Zwischenmensch!“

Nicht einen einzigen Blick bekomme ich mehr. Sie dreht sich um und verschwindet mit großen Schritten um die nächste Ecke.

 

Nur schwer löst sich meine wortlose Starre. Wie ferngelenkt laufe ich in Richtung Bahnhof. Mein Blick fällt auf das schrille Plakat an der Anschlagsäule.

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Jutta Kieber